Der British North America Act von 1867 – aus Sicht des Staates Kanada

1. Historischer Hintergrund

Mitte des 19. Jahrhunderts bestand das Gebiet des heutigen Kanada aus mehreren britischen Kolonien: Canada (unterteilt in Upper und Lower Canada – also Ontario und Québec), Nova Scotia und New Brunswick.
Diese Kolonien litten unter politischen Spannungen, wirtschaftlichen Schwierigkeiten und Konflikten zwischen den englisch- und französischsprachigen Bevölkerungsgruppen. Zudem wuchs nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865) die Angst vor einer möglichen US-Expansion nach Norden.

Vor diesem Hintergrund entstand die Idee einer föderalen Vereinigung, die politische Stabilität, wirtschaftlichen Fortschritt und eine gemeinsame Verteidigung sichern sollte. Zwischen 1864 und 1866 fanden die Charlottetown-, Québec- und London-Konferenzen statt, bei denen Vertreter der Kolonien – die später als Fathers of Confederationbekannt wurden – die Grundzüge einer neuen Verfassung aushandelten.
Das Ergebnis war der British North America Act (BNA Act), der vom britischen Parlament verabschiedet und am 1. Juli 1867 in Kraft trat. Dieses Datum gilt bis heute als Geburtstag Kanadas (Canada Day).


2. Ziele und Bedeutung aus kanadischer Sicht

Aus Sicht der neuen Nation war der BNA Act weit mehr als ein Gesetz – er war der Gründungsakt des modernen Kanada. Er verfolgte mehrere zentrale Ziele:

a) Politische Einigung und Stabilität

Die Föderation sollte die politischen Spannungen zwischen den Kolonien überwinden und eine stabile Regierung schaffen. Das neue System verband eine starke Zentralregierung mit autonomen Provinzregierungen, um die kulturelle und sprachliche Vielfalt zu bewahren.

b) Selbstregierung innerhalb des Britischen Empire

Kanada erhielt mit dem BNA Act eine eigene Bundesverfassung, ein Parlament und eine Regierung, blieb aber Teil des Britischen Empires.
Damit entstand das „Dominion of Canada“ – ein halbautonomer Staat mit eigener politischer Identität, aber weiterhin unter der britischen Krone.

c) Wirtschaftliche und sicherheitspolitische Ziele

Die Vereinigung versprach Vorteile für den Handel, den Ausbau der Infrastruktur (vor allem der Eisenbahn) und eine gemeinsame Verteidigung gegen mögliche äußere Bedrohungen.


3. Inhalt und Aufbau des British North America Act

Der BNA Act legte in 147 Artikeln die Grundordnung des neuen Staates fest:

  • Schaffung des Dominion of Canada:
    Die vier Kolonien Ontario, Québec, Nova Scotia und New Brunswick wurden zu einem Bundesstaat vereint.
    Später traten weitere Provinzen und Territorien bei (u. a. Manitoba 1870, British Columbia 1871, Prince Edward Island 1873, Neufundland 1949).
  • Föderale Struktur:
    Der Act teilte die Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund (Art. 91) und Provinzen (Art. 92) auf.
    Der Bund war zuständig für Außenpolitik, Verteidigung, Handel, Währung usw., die Provinzen für Bildung, Gesundheit und Zivilrecht.
  • Staatsaufbau nach britischem Vorbild:
    Kanada blieb eine konstitutionelle Monarchie.
    Das Parlament bestand aus dem House of Commons (Unterhaus) und dem Senate (Oberhaus).
    Der General­gouverneur vertrat die britische Krone, während der Premierminister und das Kabinett dem Parlament verantwortlich waren (Prinzip der Verantwortungsregierung).

4. Die politischen Köpfe der Zeit – die „Fathers of Confederation“

Die Einigung wäre ohne einige herausragende Staatsmänner nicht möglich gewesen. Sie schufen das politische Fundament des neuen Kanada:

Sir John A. Macdonald (1815–1891)

  • Führender Kopf der Bewegung und erster Premierminister Kanadas (1867–1873, 1878–1891).
  • Konservativer aus Ontario, Architekt der föderalen Union.
  • Entwarf zentrale Teile des BNA Act und setzte die Idee eines „Dominion“ durch.
  • Wollte Einheit, Loyalität zur Krone und eine starke Zentralregierung.

George-Étienne Cartier (1814–1873)

  • Führer der französisch-kanadischen Konservativen in Québec.
  • Kämpfte für den Schutz der Sprache, Religion und Kultur der Frankokanadier.
  • Sein Einfluss sorgte dafür, dass die Provinzen eigene Kompetenzen erhielten – besonders in Bildung und Zivilrecht.
  • Enge Zusammenarbeit mit Macdonald in der „Macdonald–Cartier-Koalition“.

George Brown (1818–1880)

  • Liberaler Reformer aus Ontario und Gründer der Zeitung The Globe.
  • Befürwortete das Prinzip der Bevölkerungsrepräsentation („representation by population“).
  • Anfangs Gegner Macdonalds, dann aber entscheidender Partner im „Großen Koalitionskabinett“ von 1864, das die Einigung ermöglichte.

Charles Tupper (1821–1915)

  • Premierminister von Nova Scotia.
  • Setzte den Beitritt seiner Provinz zur Konföderation trotz Widerstandes durch.
  • Später selbst kurz Premierminister Kanadas (1896).

Samuel Leonard Tilley (1818–1896)

  • Premier von New Brunswick.
  • Unterstützte aktiv den Beitritt seiner Provinz und prägte den Namen „Dominion of Canada“, inspiriert von Psalm 72:8:
    „He shall have dominion from sea to sea.“

Daneben wirkten zahlreiche weitere Politiker an den Verhandlungen mit, darunter Thomas D’Arcy McGee, Alexander Galt, George Coles und John Hamilton Gray. Insgesamt gelten 36 Männer als offizielle Fathers of Confederation.


5. Entwicklung zur Unabhängigkeit

Nach 1867 blieb Kanada zunächst unter britischer Oberhoheit. Die Unabhängigkeit wuchs schrittweise:

  • 1931 – Statute of Westminster: Kanada erhielt volle gesetzgeberische Souveränität.
  • 1982 – Constitution Act: Die Verfassung wurde „nach Kanada zurückgeholt“ (patriated) und durch die Canadian Charter of Rights and Freedoms ergänzt.
    Seitdem heißt der ursprüngliche BNA Act offiziell Constitution Act, 1867.

6. Langfristige Wirkung und Bedeutung

Aus Sicht Kanadas war der British North America Act der Beginn eines neuen politischen Zeitalters:

  • Er begründete den föderalen Charakter des Landes, der bis heute die Politik bestimmt.
  • Er schuf die Grundlage für ein friedliches Zusammenleben zweier großer Sprachgemeinschaften.
  • Er zeigte, dass eine Nation sich durch Verhandlung und Kompromiss bilden kann – nicht durch Krieg oder Revolution.
  • Und er legte den Grundstein für die kanadische Identität, die Loyalität, Vielfalt und Demokratie vereint.

Fazit

Der British North America Act von 1867 war für Kanada die Geburtsurkunde des modernen Staates.
Er entstand durch das politische Geschick von Persönlichkeiten wie Sir John A. Macdonald, George-Étienne Cartier, George Brown und anderen, die es schafften, nationale Einheit, kulturelle Vielfalt und britische Tradition in einer gemeinsamen Verfassung zu verbinden.

Aus kanadischer Sicht markiert der BNA Act den Übergang von britischer Kolonie zu einer eigenständigen Nation – ein Prozess, der sich über Jahrzehnte fortsetzte und in der heutigen souveränen, föderalen und demokratischen Verfassung Kanadas seinen Abschluss fand.


Weiterführende englische und deutschsprachige Quellen

Englischsprachige Originalquellen

  1. Volltext des Gesetzes (legislation.gov.uk):
    An Act for the Union of Canada, Nova Scotia and New Brunswick (1867)
  2. Hintergrund beim britischen Parlament:
    UK Parliament – British North America Act 1867
  3. Encyclopaedia Britannica – Überblick:
    British North America Act – Encyclopaedia Britannica

Deutschsprachige Quellen

  1. Verfassungsgesetz von 1867 (deutsche Übersetzung):
    Verfassungen.net – British North America Act
  2. Juristischer Überblick:
    JuraForum.de – British North America Act
  3. Politisches Porträt Kanadas (Auswärtiges Amt):
    Auswärtiges Amt – Kanada: Politisches Porträt